Der Postmoderne

Eines Tages war so ein Ausdruck. Zwei häufig verwendete, einfache Worte, wie sie jedermann jeden Tag x-mal zu hören bekommt. Es war nichts Außergewöhnliches an ihnen: das Zahlwort ein steht als erstes in einer langen Kolonne ganzer Zahlen, gleichberechtigt mit allen, nur ein bisschen gleicher als die übrigen. Der Tag war bis ins dritte Jahrtausend eine fundamentale Kategorie der Menschheit geblieben – weder die Französische Revolution noch die Relativitätstheorie hatten ihm etwas anhaben können, im Gegenteil: der Mittwoch allein hatte erfolgreich, und dies fast ausschließlich im deutschen Sprachraum, der völligen Monotonie das Alltags getrotzt.

Von all dem wusste er nichts. Trotzdem gab es ihm jedes Mal einen Ruck, wenn er diese beiden Worte, im Genitiv der Einzahl, hintereinander ausgesprochen hörte. Unwillkürlich setzte er den so begonnenen Satz im Geiste fort, er konnte nicht anders, mochte er sich dagegen sperren wie er wollte. Meist blieb es nicht bei der gedanklichen Vorstellung: das kaum Wahrgenommene setzte einen Mechanismus in Gang, der – ihm unbewusst – unendlich schnell ablief und an dessen Ende die fehlenden fünf Worte aus seinem Munde drängten, heraussprudelten wie kristallklares, Jahrtausende in Bergen gelagertes und die Sinne belebendes Mineralwasser.

War er mit sich allein, machte es nicht aus, doch auch in Gesellschaft hielt er damit nicht zurück, sondern platzte, dem Sprecher ins Wort fallend, lautstark hinaus. Die Verwirrung, die er gewöhnlich bei Nichteingeweihten stiftete, macht schnell wachsender Verärgerung Platz, da er rücksichtslos dreinfuhr, wo sich Gelegenheit bot. Es ging ihm nicht darum, einen gelungenen Witz zu landen oder ein paar Lacher einzuheimsen, nein, vielmehr war er es zufrieden, etwas fallenzulassen oder: abzulaichen, wie er sich ausdrückte. Die Notdurft verrichten, nannten es die anderen, und sie hatten damit nicht so unrecht, denn er wollte, er musste Spuren hinterlassen, sein Gebiet abstecken.

Mitunter, sehr selten, wenn er die gequälten Gesichtszüge eines Freundes wahrnahm, überkam ihn eine Rührung, die ihn auf der Stelle verstummen ließ. Obwohl er von seiner Überzeugung, dass es sich bei seinen Assoziationen um angewandte Kreativität und nicht um nervtötende Piesackerei handelte, nicht abrücken wollte, behielt der verbliebene Rest Mitleids in solchen Situationen die Oberhand. Der Preis dafür war hoch: fortan konzentrierte er sich nicht mehr darauf, was er sagte, sondern darauf, was er nicht sagte.

Es war einmal pflegen Geschichten zu beginnen, in denen nach der Einleitung plötzlich, eines Tages, etwas geschieht. Und genauso oft, wie es einmal ist, ist es auch eines Tages. Erfahrene Märchen- und Geschichtenerzähler kannten oft mehr als tausendundeine Variante, die sich, sobald der Sesam eines Tages sie geoffenbart hatte, vor ihrem inneren Auge auftaten. Zwei Worte, die ihre Gedanken auseinanderstreben ließen in die unendlichen Weiten der Phantasie.

Wie anders verhielt es sich bei ihm! Die gleichen Worte engten ihn völlig ein, kanalisierten sein Bewusstsein in die ewig gleiche Richtung. Wie eine Lehmschicht hielten sie alles bis auf jene fünf Sprachpartikel zurück, rissen sie unwiderstehlich mit sich fort und spülten sie schlussendlich beim Mund hinaus. Brain drain einmal anders.

Gegen diesen Automatismus konnte er sich nicht wehren, mochte er versuchen, was er wollte. Seine zweite Natur behielt die Oberhand. Sie hatten ihn in der Prägephase erwischt, und seither floss der Speichel beim Ertönen der Glocke in Strömen.

Sein Problem lag in seiner Historizität: er war zu spät auf die Welt gekommen. Zum Verbraucher geboren, wurde seine Unschuld – von Soziologen nachgewiesen – auf dem Altar des Kapitalismus geopfert. Seinem Geist fehlte von Anfang an der organische Zusammenhang, nicht war gewachsen, erfahren, sondern aufgepfropft, eingehämmert, eingetrichtert. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft überließ er das Denken folgerichtig den anderen.

Ideen suchten ihn selten heim – die wenigen guten, die er hatte, kamen immer vom Backpulvererzeuger. Als er gerade sechs war, verriet ihm eine Kühlschrankfirma, was Frauen wünschten. Er begriff bald, dass man zu Bananen nicht einfach Bananen sagt und der gute Geschmack auf dem täglichen Brot durch nichts zu ersetzen ist. Wollte er morgen noch kraftvoll zubeißen können, hörte er nicht auf Dr. Quidenus, denn der zielte auf strahlende Küsse. Keines Duftwassers wegen konnte er es kaum erwarten, ein Mann, ein richtiger Mann zu werden – dafür würde er auch meilenweit gehen.

Beim täglichen Ratespiel ließ er seinen älteren Brüdern keine Chance und deklassierte sie meist zu null. Seine unfehlbaren Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen. Während andere die fünf Minuten vor und nach der Zeit im Bild zum Essenholen oder Wasserlassen nutzten, sog er die Bilder singender Teekessel, duftender Klomuscheln und glücklicher Backrohre begierig ein. Mitunter dürstete ihn nach zischfrisch, dann nach spassmachtundschmeckt. Mal trank er New York, mal einfach es, mal genau das. Salzstangen hatte er immer dabei, Schokokaramel nur, wenn er bei Arbeit, Sport und Spiel mobil sein wollte oder seinem Appetit nicht schaden wollte.

Binnen kürzester Zeit beherrschte er das kleine Konsum-Einmaleins besser als das rechnerische. Er lerne für das Leben, nicht für die Schule, sagte er. Und irgendwie hatte er damit nicht unrecht, denn er tat sich leichter in einer Welt, von der er wusste, aus welcher Quelle sie trinkt.

Er ist nicht der einzige. Doch von der Generation, die so gut wie keine andere auf das Leben, auf das richtige Leben vorbereitet wurde, hat er sich an die ihm von der Gesellschaft zugedachten Rolle am vollständigsten angepasst.

Eines Tages werden alle Uhren so gebaut.