Sorry, dass wir noch hier sind

Als George Orwell im Spätherbst 1948 einen Titel für seinen eben fertiggestellten Science-Fiction-Roman über das Leben in einem sozialistischen Überwachungsstaat sucht, nennt er sein Werk schlicht und einfach "1984". Im Österreich des Jahres 1984 kann man ebenfalls den Eindruck gewinnen, dass der Zweite Weltkrieg eben erst zu Ende gegangen ist. Mich erzürnen in jenem Jahr nicht nur unangemessene Polizeieinsätze in der Stopfenreuther Au, sondern vor allem Politiker, für die Österreicherinnen und Österreicher nichtdeutscher Muttersprache nicht zu existieren scheinen. Im Falter 8/1984 beschreibe ich daher die prekäre Lage der Burgenländischen Kroaten, die seit Beginn des 16. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Österreichs leben.

Ortsende von Frakanava

Das Jahr danach

„Die Republik Österreich erklärt sich bereit, alle Verpflichtungen des Staatsvertrages zu erfüllen. Sie wird alles unternehmen, um die Erhaltung und freie Entfaltung der slowenischen und der kroatischen Volksgruppe zu ermöglichen.“ So lautet des amtliche Kommuniqué, das anläßlich des Besuches von Bundeskanzler Fred Sinowatz in Jugoslawien von beiden Seiten unterzeichnet wurde.

Es ist nicht die erste Erklärung dieser Art. Seit Bestehen der 2. Republik bekunden österreichische Politiker immer wieder verbal ihr Verständnis für die Wünsche der kroatischen Volksgruppe im Burgenland. Dabei ist es bis jetzt auch geblieben.

Was die Umsetzung dieser Beteuerungen angeht, wenden sie die erprobte Hinhaltetaktik an: sie schieben das Problem so lange auf, bis es sich von selbst erledigt. Die zwischenstaatlich eingegangenen Verpflichtungen dienen lediglich dem Zweck, die österreichisch-jugoslawischen Beziehungen nicht unnötig zu belasten. An ihre Realisierung denken sie nicht einmal im Traum – aber gemeinsame Erklärungen und Kommuniqués, das gehört sich halt so. Österreichische Diplomatie als würdige Fortsetzung jener Tradition des Ums-Haxl-Hauens, mit der seinerzeit der Staatsvertrag aus Rußland in die Proporzscheune gefahren wurde.

Wie sieht nun das Ansinnen der Nie-Zufriedenen aus, die – nach Kronen-Zeitungs-Kolumnist Ernst Trost „zum ungeschicktesten Zeitpunkt“ – kurz vor Sinowatz den jugoslawischen Außenminister Lazar Mojsov besucht haben und von der österreichischen veröffentlichten Meinung dementsprechend als Landesverräter tituliert wurden? Welche extremen Forderungen haben sie bei ihrer Blitzvisite gestellt, sodaß die österreichischen Medien ihr langes Schweigen gebrochen haben und von der Existenz der Volksgruppe Notiz genommen haben?

Neben dem Wunsch, in konstruktive Gespräche mit der Österreichischen Bundesregierung einzutreten, gilt die dringlichste Sorge der Vertreter der burgenländischen Kroaten der Sicherstellung der kroatischen Erziehung. Zwar dokumentiert der Paragraph 2 des oft strapazierten Artikels 7 des Österreichischen Staatsvertrages den Anspruch auf kroatischen Elementarunterricht sowie auf eine verhältnismäßige Anzahl eigener Mittelschulen, doch wurden die zu seiner Umsetzung notwendigen Durchführungsbestimmungen bis heute nicht erlassen. Somit bestimmt nach dem Burgenländischen Landesschulgesetz 1937 der jeweilige Gemeinderat die Unterrichtssprache der Volksschule. Für Mittelschulen fehlt jegliche Regelung, daher beträgt deren „verhältnismäßige Anzahl“ genau null.

Außenstehende könnten nun einwenden, daß somit ja alles in Ordnung sei und dort, wo sich auf Gemeindeebene eine Mehrheit für kroatischen Unterricht finde, ungeachtet der formellen Unzulänglichkeiten das Kroatische ohnehin zu seinem Recht komme. Das könnte theoretisch tatsächlich funktionieren, gäbe es nicht das zutiefst österreichische Phänomen der vollständigen Durchdringung des öffentlichen Lebens durch die politischen Parteien.

So konstituierte sich 1955 die sogenannte „Bürgermeisterkonferenz der kroatischen und gemischtsprachigen Ortschaften des Burgenlandes“. Sie umfaßt die sozialistischen Bürgermeister und -stellvertreter der betreffenden Gemeinden und bildet einen Gegenpol zum 1924 gegründeten „Kroatischen Kulturverein“ (Hrvatsko kulturno društvo – HKD), der unter starkem Einfluß der Geistlichkeit im wesentlichen die konservativ eingestellten Kräfte der Kroaten versammelt.

Während der HKD seit seinem Bestehen versucht, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das Kroatentum im öffentlichen Leben des Burgenlandes wiederzubeleben, vertreten die Sozialisten seit nunmehr 30 Jahren die Auffassung, „daß die Kroaten nicht gezwungen werden können, aus ihren gesetzlich verankerten Rechten Pflichten zu machen“. Sie sehen in der Betonung des kroatischen Elements die Gefahr der Gettoisierung und postulieren aus materiellen und sozialen Motiven ein möglichst schnelles und vollständiges Aufgehen der Volksgruppe in der deutschsprachigen Mehrheit.

Seit der Existenz zweier rivalisierender Gruppen, die bis vor kurzem mit den beiden großen politischen Parteien ident waren, stellt sich in wachsendem Ausmaß die Frage nach ihrer Repräsentationbefugnis: der Kroatische Kulturverein als Wahrer des kroatischen Kulturgutes sieht sich als Vertreter aller im Burgenland (etwa 30.000) und in Wien (etwa 15.000) lebenden Kroaten, während die sozialistischen Vertreter die bei Wahlen erhaltenen Stimmen als Votum für ihre Assimilationspolitik betrachten.

Die Politisierung jeder einzelnen volksgruppenrelevanten Entscheidung ließ einen Klubzwang entstehen, der – zum Schaden der Volksgruppe – jeglichen Fortschritt unmöglich macht. So können etwa SPÖ-Politiker, die sich zu lautstark zu ihrer Volksgruppe bekennen, auch heute noch ihre Parteikarriere in der Regel vergessen.

Die Spaltung in anpassungswillige und volkstumsbewußte Kroaten macht sich die Bundesregierung zunutze, indem sie beide Gruppen als grundsätzlich vertretungsbefugt anerkennt. Sie lehnt den ausschließlichen Anspruch des Kroatischen Kulturvereines auf Wahrung der kroatischen Interessen ab und fordert als Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen die Beilegung der innerkroatischen Meinungsverschiedenheiten.

Um ein entscheidungsfähiges Gremium zu schaffen, versucht die Regierung seit nunmehr neun Jahren, im sogenannten Volksgruppenbeirat beide Gruppen mit gleicher Mitgliederanzahl hinter dem Verhandlungstisch zu versammeln. Gegen diese paritätische Beschickung des Beirates wehren sich die volkstumsbewußten Kroaten aus einsichtigen Motiven.

Dabei stehen sie nicht allein da: auch der Feldkircher Völkerrechtler Theodor Veiter kann sich nicht vorstellen, wie eine Gruppe, deren erklärtes Ziel das Verschwinden der eigenen Konstitutionsmerkmale ist, als Vertreter der Überlebensinteressen der Volksgruppe anerkannt werden kann. „Das ist als ob man das Einverständnis eines Alkoholikers braucht, um die Getränkesteuer hinaufzusetzen“.

Natürlich ist es unpopulär, wenn Kroatenvertreter in regelmäßigen Abständen auf die Erfüllung des Statsvertrages pochen. Aber der Rückgriff auf das Gesetz ist offenbar die letzte Möglichkeit, die zum Überleben der Volksgruppe nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Herrschte in unserem Land ein minderheitenfreundliches Klima, so hätte man die im Staatsvertrag eingegangenen Verpflichtungen längst übererfüllt und würde nicht um Prozentpunkte feilschen, die die (Nicht-) Existenz von ethnischen Gruppen definieren. In Skandinavien beispielsweise wird Gemeinschaften, die in bestimmten Regionen sieben Prozent an der Gesamtbevölkerung erreichen, Volksgruppenstatus zuerkannt, mit aller damit verbundenen ideellen und materiellen Hilfe.

Es ist keine Frage, daß die kulturelle Grundeinstellung eines Landes viel wichtiger ist als gesetzlichen Vorschriften. Solange hinter einem Gesetz keine moralische, gesellschaftliche oder politische Kraft steht, ist es so gut wie wertlos. Das Bild eines anderen Volkes, einer anderen Kultur ist nie ein für allemal gegeben, sondern es wird permanent neu geschaffen: unter anderem durch die mangelnde Berücksichtigung der Minoritäten im Schullehrstoff, was einer Entwertung dieser Gruppen gleichkommt; weiters durch die negative Vorbildfunktion der staatlichen Repräsentanten, die durch ihr Desinteresse an den Volksgruppen ihre Meinung deutlich kundtun.

Daran wird sich auch unter Kanzler Fred Sinowatz nicht viel ändern. Wohl stammt er aus einer ehemals kroatischen Familie, doch eben von jener politischen Seite, für die nur materieller Wohlstand persönliche Entwicklung möglich macht und für die sich seit der Nachkriegszeit nichts geändert hat.

Bemerkenswert ist, daß die kroatische Gemeinschaft, deren Überschaubarkeit die Identifikation mit ihr erleichtert, in letzter Zeit viele junge Leute anzieht. So freut sich die Folkloregruppe „Kolo-Slavuj“, die das einzige gesamtburgenländische Ensemble darstellt und sich aus in Wien arbeitenden und studierenden Kroaten zusammensetzt, über eine wachsende Anzahl von Neuzugängen. Der Kroatische Akademikerklub (Hrvatski akademski klub – HAK) konnte anläßlich des im Vorjahr in Wien organisierten „Symposion Croaticon II“ eine Reihe neuer Mitglieder gewinnen.

Trotzdem scheint mir die Entwicklung „draußen“ in den Dörfern von größerer Bedeutung zu sein als jene in den in Wien doch recht isolierten Vertretungen. Im Alltag der Dorfgemeischaft findet der Grabenkampf statt, und dort wird auch entschieden, ob es die kroatische Volksgruppe in ein bis zwei Generationen noch geben wird.

Insofern ist es auch alles andere als belächelnswert, wenn etwa die kroatische Wochenzeitung „Hrvatske novine“ auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom 10. Februar 1984 voller Freude die Meldung bringt, daß es in einer gemischtsprachigen Ortschaft gelungen ist, einen der beiden Kindergärtnerinnenposten wieder mit einer Kroatin zu besetzen.

Als Burgenländer teilen die dort ansässigen Kroaten das wirtschaftliche Schicksal ihrer Landsleute. Der Mangel an Arbeitsplätzen zwingt viele, in Wien Arbeit zu suchen oder wegen ihrer Ausbildung von zu Hause wegzugehen. Welche Folgen dieser Exodus auf das Dorfleben und auf die Gemeischaftkultur hat, ist unschwer vorzustellen: gesellschaftliche Aktivitäten nehmen ab, die Leute ziehen sich - umgeben von deutschsprachigen Medien - in die eigenen vier Wände zurück.

Weitab vom städtischen Kulturangebot verbringen die Daheimgebliebenen eine oftmals monotone Arbeitswoche, nur an den Wochenenden kristallisieren sich Discos, Cafés und Tanzveranstaltungen als beliebte Treffpunkte heraus. Tritt eine der wenigen kroatischen Bands auf, kann sie sich der Treue des Publikums sicher sein.

Vor drei Jahren taten sich engagierte Jugendliche und Mitglieder der kroatischen Rockgruppe „Bruji“ zusammen und gründeten im mittelburgenländischen Veliki Borištof/Großwarasdorf die KUGA (Kulturna zadruga – Kulturgenossenschaft). In Eigenregie adaptierten sie die alte Volksschule als Klublokal und setzten sich das Ziel, die heimische Jugend zur Mitarbeit zu gewinnen und kulturelle Impulse zu geben.

Während es naturgemäß schwer ist, die zu passivem Kulturgenuß erzogenen Jugendlichen zu selbständiger Arbeit zu animieren, startete das zweite Vorhaben verheißungsvoll: so traten in der KUGA bereits einige der an den Wiener Kleinkunstbühnen erfolgreichen Kabaretisten auf, und im November 1983 war der aus Sarajevo stammende Zijah Sokolović mit seinem Ein-Mann-Stück „Glumac je glumac je glumac“ zu Gast (die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Hamlet und so“ wird in Wien wegen des überwältigenden Erfolges von Justus Neumann noch immer vor ausverkauftem Haus gespielt).

Trotzdem sieht man sich seitens der KUGA-Aktivisten mit Ablehnung und Vorurteilen konfrontiert, die vor allem von der älteren Generation gehegt werden. Das Wort „Genossenschaft“ im Namen genügt, um latente Kommunismus-Ängste wachzurufen und einen Teil der Bevölkerung gegen die KUGA einzunehmen.

Bezeichnend für die Situation ist, daß am Christtag einige Pfarrer der Umgebung von der Kanzel herab vom Besuch einer am selben Abend stattfindenden Tanzveranstaltung abrieten, da dieser Tag noch zur Adventzeit gehöre und man sich daher nicht vergnügen dürfe. Bezeichnend war freilich auch, daß an jenem Abend das Lokal aus allen Nähten platzte.

Alles in allem kann man nach dem Jubiläumsjahr 1983 (450 Jahre Kroaten im Burgenland und Westungarn) schwer sagen, ob die bei diesem Anlaß gewonnene Stärkung des Selbstbewußtseins ausreichen wird, um langfristig das Überleben der Volksgruppe zu sichern. Wohl sind sich die Kroaten dessen bewußt, daß es ihnen besser geht als der ungarischen Minderheit in Rumänien, doch kann Gleichgültigkeit im Demokratiemäntelchen noch viel verheerendere Konsequenzen haben als offene Repression. Diese kann unter anderem dazu führen, daß der „Spiegel“ die kroatische Volksgruppe als die zufriedenste Minderheit Europas feiert.

Auf was für Ideen die Leute kommen, wenn man keine Bomben schmeißt!